Mehr Wahnsinn wagen – in Buchform immer eine gute Idee, im Jugendbuch eine besonders gute Idee. Viel zu häufig scheint die Schwere des Erwachsenwerdens Romane für die Altersklasse Jugendlicher zu erdrücken. Natürlich ist die Pubertät eine besch…eidene Zeit: Vieles verändert sich, manches will sich nicht verändern, doch mit ein wenig Abstand sind die großen Dramen nur noch tragikomische Akte im Lebenstheater. Lässt man sich wie Dita Zipfels Protagonistin Lucie Schmurrer die Welt vom Wahnsinn erklären, ist die Komik im eigenen Drama zwangsläufig unausweichlich. Sicher nervt Mamas neuer Freund Michi, das irgendwie Verliebtsein und der ganze Schulkram mit Cliquen und angeblichen Freundinnen – doch zum Glück trifft Lucie Herrn Klinge. Mit ihm lässt sie den absoluten Wahnsinn in ihr Leben. Sie tanzt auf Kindergräbern, geht nicht mit toten Hunden spazieren, lässt sich ein geheimes Kochbuch mit klangvollen Zutaten wie Drachenherzen und Werwolfspucke diktieren und sieht die Welt am Ende vielleicht ein wenig anders… Der Wahnsinn in Dita Zipfels Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte erklärte ist wunderbar. Verrückte Einfälle häufen sich und das ist absolut nicht zu viel, nur leider scheint die Realität abseits des Wahns an manchen Stellen ein wenig zu konstruiert. Warum sollte beispielsweise ein fast 13jähriges Mädchen auf einmal ein Zimmer mit dem jüngeren Bruder teilen, nur weil der immerzu norwegerpullitragende Michi in die Wohnung gezogen ist? Vor Michi hatte Lucies Mutter ebenfalls eine Beziehung und damals gab es offenbar keine Zimmerengpässe. Trotz dieser Abstriche in der B-Note ist Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte eine unterhaltsam-wahnsinnige Lektüre die besonders von den fantastischen Illustrationen Rán Flygenrings profitiert. Flapsig im sprachlichen Ausdruck, nicht vorhersehbar und mit Kochrezepten – was will man mehr?!
Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte
Illustrationen von Rán Flygenring
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Carl Hanser Verlag, München 2019, 208 Seiten, 15,00 €
ISBN 978-3-446-26444-1
Manchmal können negative Gefühle schmerzhafter sein als physische Schmerzen. Wie körperlich anstrengend kann Liebeskummer sein, wie zermürbend Trauer nach einem Verlust und wie unerträglich ist die Sehnsucht nach dem Vertrauten bei intensivem Heimweh. Häufig sind solche Gefühlszustände in ihrer Dauer zeitlich begrenzt, doch wenn die eigene Mutter beschließt von Dublin zurück in ihren alten Heimatort Velgow in Mecklenburg-Vorpommern zu ziehen gibt es kein Zurück und damit scheinbar kein Ende für den Heimatverlust. „Man zieht nicht in diese Gegend, man zieht hier weg“ und doch muss Emma mit ihren Geschwistern Aoife und Dara zu unbekannten Großeltern in ein aussterbendes Kaff ziehen. Kein alkoholkranker Vater mehr, keine Freunde, kein Granda Eamon, keine Nana Catherine, kein irisches Meer und keine irische Sprache. Obwohl die drei Geschwister zweisprachig aufgewachsen sind, fühlen sie sich im Deutschen fremd und stoßen auf viele Wörter die ihnen bisher nicht begegnet sind: Mifa, Kalter Hund oder Broiler. Dem 16jährigen Dara scheint das alles egal zu sein, die 8jährige Aoife spricht zunächst nur noch Irisch und hört nach Witzen über ihren Namen, der ‚Iifa‘ und nicht ‚Affe‘ ausgesprochen wird, komplett auf zu reden. Die 12jährige Emma hingegen fühlt sich „halb traurig und halb gar nichts“. Alles scheint falsch zu sein in diesem Deutschland und sie beschließt nach nur drei Stunde das Land mit dem harten Brot und den Teebeuteln mit Schnüren und Etiketten so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Hilfe bekommt sie von ihrem neuen Mitschüler Levin und obwohl dieser einen Fluchtplan ausheckt, kommt am Ende alles anders als geplant. Susan Kreller ist mit ihrem dritten Jugendroman Elektrische Fische ein Geniestreich gelungen. Spannende Charaktere, mitreisende Erzählweise und eine Sprache von hohem literarischen Wert fesseln den Leser gleich zu Beginn der Lektüre. Jedes weitere Worte ist an dieser Stelle unnötig, es gibt einfach keine Kritikpunkte, denn das ist große Literatur!
Susan Kreller: Elektrische Fische
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Carlsen Verlag, Hamburg 2019, 192 Seiten, 15,00 €
ISBN 978-3-551-58404-5
Gelegentlich klingeln sie an der Haustüre, häufig stehen sie in Fußgängerzonen: Die Zeugen Jehovas. Sie lehnen Bluttransfusionen ab und feiern weder Geburtstage noch andere Fest- und Feiertage. Darüber hinaus bleiben sie in der öffentlichen Wahrnehmung eine abstrakte und in Teilen befremdliche Glaubensgemeinschaft. Einen Blick in deren Inneres wirft die Schriftstellerin Stefanie de Velasco mit ihrem zweiten Roman Kein Teil der Welt. Selbst bis zu ihrem 15. Lebensjahr Teil der Zeugen Jehovas, verarbeitet sie persönliche Erfahrungen und teilt ihr Insiderwissen mit den Lesern, ohne jedoch eine autobiographische Geschichte zur erzählen. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Esther und Sulamith, beide im gleichen Alter, beide in der Pubertät und beide Teil dieses Glaubenssystem. Sie wachsen auf wie Schwestern, fühlen sich in ihrer Kindheit durchaus geborgen, doch mit dem Älterwerden wachsen auch die Zweifel Sulamiths an ihrer weltfremden Umgebung und das bleibt nicht lange ohne Folgen – auch nicht für Esther. Kein Teil der Welt ist eine Geschichte die ihrem Titel entsprechend die Parallelgesellschaft der Zeugen Jehovas, deren vermeintliche Wahrheit und Begrifflichkeiten (Königreichssaal, Sommerkongress, Predigtdienstschule oder Harmagedon) in den Fokus stellt, diese mittels der Ich-Erzählerin Esther subtil erklärt und deren Realität und Entwicklung eindrücklich veranschaulicht. Trotz gelegentlicher Längen ein faszinierender Roman, der besonders durch seinen weiten Blick, wie die Thematisierung der Verfolgung religiöser Minderheiten im Nationalsozialismus und der DDR oder der Nachwendezeit überzeugt.
Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 432 Seiten, 22,00 €
ISBN 978-3-462-05043-1