Dieses Jahr feiert Pippi Langstrumpf ihren 75. Geburtstag. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters ist sie noch immer ein Synonym für Unabhängigkeit, Lebensfreude und Stärke. Natürlich ist sie nicht die einzige feministische weibliche Figur im Kinderbuch und auch abseits der Welt von Astrid Lindgren gibt es gelegentlich selbstbewusste Protagonistinnen – aber eben nur gelegentlich. Allzu oft transportieren besonders Kinderbücher das Weltbild der passiven Conni, mit kochender Mama und arbeitendem Papa. Wie schön wenn da ein nach eigener Aussage „waschechtes Bauernweib“ wie Frossja Korowina um die Ecke kommt. Statt in einem kunterbunten Haus wohnt diese in einem traditionellen Bauernhaus 400 Kilometer nordöstlich von Moskau mit ihrer Großmutter Aglaja Jermolajewna, denn ihre Eltern sind als Geologen immer unterwegs. Ihre Mathekenntnisse gehen durch den Besuch der Schule im Nachbardorf über das 2 x 3 macht 4 hinaus, außerdem begleiten sie nicht Äffchen und Pferd sondern ein kaffeetrinkender Bär und eine zumindest zwei Wörter sprechende Henne. Und dennoch steht sie Pippi Langstrumpf in puncto selbstbewusstes Auftreten und Entschlossenheit in Nichts nach. Selbst als der Überzeugungstrinker* Nikanor das beschauliche Bauernweiberleben stört, ihre Oma im Krankenhaus landet und das geliebte Bauernhaus in das Museum für Holzbaukunst abtransportiert wird, lässt sich Frossja nicht unterkriegen. Ein liebenswerter Roman voller Verrücktheiten und skurriler Charaktere. Wunderschön gestaltet, hervorragend übersetzt von Thomas Weiler und mit charmanten Illustrationen von Marija Woronzowa. Absolut empfehlenswert nicht nur für waschechte Bauernweiber!
Stanislaw Wostokow: Frossja Furchtlos oder von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern
Illustrationen von Marija Woronzowa
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Satz: satz & repro Grieb, München
Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig
Druck und Bindung: PNB Print SIA
Knesebeck Verlag, München 2019, 176 Seiten, 14,00 €
ISBN 978-3-95728-259-0
*Laut dem selbsternannten Überzeugungstrinker Nikanor benötigt jedes Dorf einen Trinker und da er mit dieser Meinung offenbar recht alleine dasteht opfert sich Nikanor eben selbst. Tja, eigentlich eine logische Sache…
1994 schlüpfte Whoopi Goldberg in die Rolle des Kindermädchens Corrina Washington. Mit viel Geduld half sie der kleinen Molly über den Tod ihrer Mutter hinweg, brachte sie dazu endlich wieder zu sprechen und gab ihr ein wichtiges Mantra für die unglücklichen Schulbesuche mit auf den Weg: „Ich bin Molly Singer und es gibt niemanden der besser ist als ich!“ Auch der elfjährige Vincent beschwört sich mit der titelgebenden Durchhalteparole Ich bin Vincent und ich habe keine Angst selbst. Wer kennt schließlich nicht die Angst alleine in einen dunklen Keller gehen zu müssen oder hatte noch kein mulmiges Gefühl auf dem düsteren Nachhauseweg. Die beste und wenn auch nur gefühlt sinnvolle Medizin gegen Angstzustände dieser Art ist die permanente Wiederholung bestärkender Worte. Das weiß auch Vincent und dennoch sind Gedanken eben nur Gedanken, die keiner hört. Deshalb beginnt sein täglicher Gang zur Schule stets mit Bauchschmerzen und endet mit Schlägen von seinem Mitschüler Dilan und dessen Bande. Selbst als die neue Schülerin Jacqueline, genannt ‚Die Jacke‘, sich mit Vincent anfreundet, kann er sich ihr ebenso wenig öffnen wie seinen Eltern oder LehrerInnen. Einzig seine vier imaginären Tierfreunde und sein Survival-Handbuch geben ihm Halt, wenn da nicht diese Klassenfahrt wäre, die Vincents Survivalfähigkeiten auf eine ganze neue Probe stellen. Zu Recht bekam die niederländische Autorin Enne Koens 2017 das Charlotte Köhler Stipendium als beste neue Kinder- und Jugendbuchautorin für ihren Kinderroman um den gemobbten Vincent. Sie trifft den Ton des kindlichen Ich-Erzählers gekonnt und spiegelt dessen komplexes Seelenleben ohne sich über ihre kindlichen Rezipienten zu erhöhen. Besonders hervorzuheben ist zudem die grafische Umsetzung des Romanaufbaus, mit eingeschobenen Survivaltipps, einer Vorausschau auf den geflohenen Vincent im dunklen Wald und dem an die Kapitel angepassten Countdown bis zur Klassenfahrt. Eine wünschenswerte Pflichtlektüre für empathielose Dilans aller Altersklassen!
Enne Koens: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst
Illustrationen von Maartje Kuiper
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Druck und Bindung: Livonia Print, Riga
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019, 192 Seiten, 15,00 €
ISBN 978-3-8369-5679-6
Freibad bedeutet um nervige Schlachtschiffomas herumschwimmen zu müssen, mit salzigen Fettfingern die letzten Pommeskrümmel aus der Mayo zu fischen und den Geruch von Chlor und frisch gemähtem Gras auch nach Tagen nicht aus der Nase zu bekommen. Das ganze Erlebnis Freibad kann auf vielen Ebenen nervtötend sein und dennoch setzt mit Beginn des Herbstes die große Sommerwehmut ein. Für die Bukowski-Geschwister Alfred genannt Alf, Katinka und Robbie, eigentlich Robert, ist diese Form der Wehmut neu. Einen ganzen Sommer, über 100 Tage, vom 15. Mai bis zum 15. September waren sie jeden Tag im Freibad. Sie haben die Stammgäste kennengelernt, sich verliebt, anständig schwimmen gelernt, sind vom Zehner gesprungen, haben sich mit dem Bademeister angelegt und versucht Französisch zu lernen. Das alles verdanken sie der Rettung eines Kleinkindes im Hallenbad und ihrer anschließenden Belohnung in Form einer Freibad-Dauerkarte. Für viele mag so eine Karte nichts besonderes sein, doch für die drei Bukowski-Kinder bedeutet es einen Sommer erleben zu dürfen, der den Namen Sommer trotz gelegentlicher Regenfälle wirklich verdient. Will Gmehlings Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel hält was es verspricht. Es ist ein Buch das saisonal wassergefüllte Becken im Freien mit all ihren Merkwürdigkeiten treffend abbildet und darüber hinaus eine Familie an der unteren Einkommensgrenze in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Zwar streift die Handlung gelegentlich das Klischee, überzeugt letztendlich jedoch mit einem hohen Maß an Authentizität. Die selbe Kritik lässt sich auch auf die Sprache des Ich-Erzählers Alf übertragen, dessen schnoddrige Alltagssprache leicht konstruiert wirkt. Dennoch ein schöner Sommer-Freibad-Roman – auch oder gerade für trübe Herbsttage.
Will Gmehling: Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel
Umschlaggestaltung: Birgit Schössow
Satz: Graphium Press
Druck und Bindung: Finidr, s.r.o.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2019, 160 Seiten, 14,00 €
ISBN 978-3-7795-0608-9