Spezielle Situationen erfordern spezielle Literatur. Ob der pandemiebewusste Leser sich nun in Albert Camus´ ‚Die Pest‘ vertieft oder die Einsamkeit in ‚Die Wand‘ von Marlen Haushofer zelebriert . Im Bereich der Kinderbücher scheint es einen solchen Trend bisher nicht zu geben, doch auch hier kann man mit Almut Baumgartens Mucksmenschenstill fündig werden.
Draußen sangen die Vögel, eine Fliege brummte am Fenster und in weiter Ferne bellte ein Hund – doch irgendetwas war anders als K an diesem Morgen erwachte. In der Küche klapperten keine Teller und es lief kein Radio. Ihr Vater rannte nicht durch die Wohnung um seine Krawatte zu suchen und auch die Zwillinge stritten nicht um die Wette. „Kein einziges Menschengeräusch. Nichts war zu hören. Nur die Vögel und die Fliege und der Hund. Es war mucksmenschenstill.“
Ks Familie war nicht etwa verschwunden, nein sie schlief. „Das Haus, die Stadt, das ganze Land. Niemand wurde wach außer ihr.“ Alle schliefen und egal was K auch anstellte, ob sie kitzelte, rüttelte oder schrie, nichts konnte ihre Eltern und Brüder wecken. Auch auf dem Weg zum Supermarkt durchdrang die Stadt eine ungewöhnliche Stille. Menschen schliefen in ihren Autos oder der Straßenbahn. Teilweise klebten sie in grotesken Posen an den Scheiben der jetzt stillstehenden Fortbewegungsmitteln. „Vielleicht ging wieder so was um wie damals die Grippe. Nur dass diesmal kein gefährlichhohes Fieber, sondern eine gewaltiggroße Müdigkeit die Kranken niederwarf.“
Man muss nicht alles können. Es reicht, wenn man es könnte.
Tiere schienen von dieser Müdigkeit ausgenommen und so verbrachte Katharina-Marie, wie K in voller Länge hieß, viel Zeit mit dem Nachbarskater Herbert von Karajan und ihrer zugelaufenen Kaninchendame Max. Doch sowohl die pelzige Gesellschaft als auch die Möglichkeit unbegrenzten DVD-Konsums konnten K auf Dauer nicht von ihren Sorgen um saure Milch und wachsende Müllberge befreien. Eigentlich muss man „nicht alles können. Es reicht, wenn man es könnte.“ Nur musste K plötzlich so viele können, dass sie völlig „durcheinander gewühlt“ war. Wenn man dann auch noch neun Jahre alt wird und sich nur auf seinen Geburtstag freuen will, ist ein zerzaustes Herz mehr als verständlich. Doch halt … war da nicht gerade ein Flüstern? Quietscht da nicht die Wohnzimmertür?
Spezielle Situationen erfordern spezielle Literatur. Ob der pandemiebewusste Leser sich nun in Albert Camus´ ‚Die Pest‘ vertieft oder die Einsamkeit in ‚Die Wand‘ von Marlen Haushofer zelebriert .. Im Bereich der Kinderbücher scheint es einen solchen Trend bisher nicht zu geben. Durchaus verständlich, doch auch hier kann man mit Almut Baumgartens Mucksmenschenstill fündig werden. Die durch und durch kafkaesken Handlung, welche über die Bedrohlichkeit der Situation des häufig plumpen Adjektivgebrauchs hinaus geht, ist ein für Kinderbücher ungewöhnlicher intertextueller Verweis. Man denke nur an den Spitznamen der Protagonistin K und Kafkas Hauptfigur aus ‚Der Process‘ Josef K. Auch sonst ist Mucksmenschenstill angereichert mit teils philosophisch anmutenden Gedanken und erinnert in seiner Erzählweise an ein Kammerspiel. Dies verwundert nicht, schließlich ist Almut Baumgarten nicht nur Autorin sondern in erster Linie Dramatikerin. Dem Titel der Reihe ‚Dramatiker erzählen für Kinder‘ entsprechend ist Baumgartens Kinderbuch dennoch das was es sein soll, ein Kinderbuch. Hintergrundwissen literarischer Art ist für das Verständnis und die Freude an der Lektüre absolut nicht vonnöten. Ein aufregendes, teils bedrückendes aber auch hoffnungsvolles Buch voller interessanter und nachvollziehbarer Gedankengänge mit ebenso ausdrucksstarken wie (farblich) reduzierten Illustrationen von Alexandra Junge.
Almut Baumgarten: Mucksmenschenstill
Illustrationen von Alexandra Junge
Gestaltung: Andrea Mogwitz
Druck und Bindung: Westermann Druck, Zwickau
mixtvision Verlag, München 2012, 64 Seiten, 12,90 €
ISBN 978-3-939435-50-1